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Gaza nach israelischen Luftschlägen im Oktober 2023
Gaza nach israelischen Luftschlägen im Oktober 2023

The Act of Not Killing: Raz Segal und der „Völkermord“ in Gaza

Posted on 17. Dezember 20235. April 2024 by Richard Müller

Kaum war das Blut der Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober getrocknet, wurden Israel in Gaza Kriegsverbrechen vorgeworfen. Das Kalkül der Hamas, sich in dichtest besiedeltem Gebiet hinter menschlichen Schutzschilden zu verschanzen, ging vom ersten Tag an auf. Schon am sechsten Tag nach den Massakern setzte der Genozidforscher Raz Segal noch einen obendrauf und warf Israel Völkermord vor.

Raz Segal ist Holocaust- und Genozidforscher an der staatlichen Stockton University in New Jersey. Und er ist jüdischer Israeli. Nur sechs Tage nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober, bei dem die Islamisten aus dem Gazastreifen 1.200 Menschen niedermetzelten, diagnostizierte der Völkermordexperte in Jewish Currents einen „textbook case of genocide“.

„Ein Völkermord wie aus dem Lehrbuch“

Dagegen wäre einzuwenden, dass Segal mit seiner Feststellung eines „Völkermords wie aus dem Lehrbuch“ doch etwas übers Ziel hinausschießt. Weil wir es hier aufgrund der späten, aber entschiedenen Gegenwehr der Israelis wohl „nur“ mit einem versuchten Völkermord der Hamas zu tun haben. Oder mit „genozidalen Massakern“, um den Anfang der 1980er vom Genozidforscher Leo Kuper eingeführten Begriff für genau solche Ausrottungsaktionen unterhalb der Schwelle zum Völkermord zu borgen.1

Das wäre gegen Segal einzuwenden, hätte er der Hamas tatsächlich einen „textbook case of genocide“ vorgeworfen. Hat er aber nicht. Denn Segal warf in seinem Jewish Currents-Beitrag vom 13. Oktober nicht der Hamas, sondern Israel Völkermord vor. Erneut am 19. November in der Los Angeles Times. Und noch einmal am 21. November in einem 40-minütigen Interview auf dem YouTube-Kanal von Owen Jones.

Die Vernichtungsabsicht

Wie es sich für einen Völkermordforscher gehört, arbeitet sich Segal Tatbestandsmerkmal für Tatbestandsmerkmal vor. Er kann sie im Schlaf aufzählen. Da an den Tausenden von den IDF getöteten palästinensischen Zivilisten inklusive Kindern kein Zweifel besteht, hält er sich mit der objektiven Tatseite der massenhaften Tötung von Menschen nicht lange auf und kommt zum Kern der Sache: dem subjektiven Tatbestandsmerkmal. Dieses besteht laut Völkermordkonvention in der

Absicht […], eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.

Artikel II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948

Genau auf diese Absicht, eine bestimmte Gruppe von Menschen als solche zu vernichten, ganz oder teilweise, kommt es beim Völkermord an.

Menschheitsverbrechen

Die Beweislast für das „crime of crimes“ des Völkermords ist hoch. Die massenhafte Tötung von Menschen alleine macht noch keinen Völkermord. Sie muss noch nicht einmal ein Verbrechen sein. Die massenhafte Tötung feindlicher Soldaten im Krieg ist legal, solange sie sich im Rahmen des humanitären Völkerrechts, des ius in bello, bewegt. Und was das ius ad bellum angeht, macht sich nur die Führungsriege des angreifenden Staates des Verbrechens der Aggression schuldig, nicht der einzelne Soldat.

Massenhafte Tötungen von Zivilisten mögen im Krieg ein Kriegsverbrechen darstellen. So Zivilisten direkt ins Visier genommen werden. Oder die Zahl der zivilen Kollateralschäden bei der Bekämpfung militärischer Ziele im Vergleich zum militärischen Nutzen unverhältnismäßig hoch ist. Im Krieg wie im Frieden mögen sich Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit auswachsen. So wir es mit „ausgedehnten und systematischen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung“ zu tun haben. Der Völkerstraftatbestand geht auf den österreichisch-britischen Juristen Hersch Lauterpacht zurück. Ihm war es gelungen, ihn 1945 in das Londoner Statut für die Nürnberger Prozesse einzuführen.

Das Gewissen der Menschheit

Aber das Verbrechen des Völkermords, wie es der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin entwickelt hat, ist ein ganz besonderes Verbrechen: Es ist nicht nur gegen die Existenz des Menschen selbst gerichtet, sondern auch gegen die Existenz seiner geborenen und ungeborenen Nachkommen. Der Genozid richtet sich gegen den evolutionären Antrieb des Menschen als Lebewesen, seine Fortpflanzung nicht weniger als seine Selbsterhaltung. Die Absicht des Völkermörders ist es, ganze Gruppen von Menschen für immer und ewig vom Antlitz der Erde zu tilgen. Mit Stumpf und Stiel.

Ich will mich gegen Babel erheben, mit Stumpf und Stiel will ich seinen Namen und Samen vernichten.

Jesaja 14,22

Es ist eben diese ins Unendliche fortwirkende, endgültige Ausrottungsabsicht des Völkermords, diese „Verweigerung des Existenzrechts ganzer Gruppen von Menschen“, welche in den Worten der UNO-Generalversammlung mehr noch als andere Verbrechen „das Gewissen der Menschheit schockiert“.2

Beim Völkermord kommt es also nicht nur darauf an, was der Täter tut, sondern auch was er will. Und dem geht der Genozidforscher Segal im Falle Israels nach und häuft Indizien zur Frage an, was Israel will.

Genozidale Sprache

Und tatsächlich finden sich in der israelischen Öffentlichkeit seit dem 7. Oktober zahlreiche Dehumanisierungsversuche und Vernichtungsphantasien. Geäußert auch von maßgeblichen Repräsentanten des Staates Israel. So hatte etwa der von Segal zitierte Verteidigungsminister Yoav Gallant die – humanitär wie rechtlich fragwürdige und militärisch dumme – Blockade des Gazastreifens mit dem Satz gerechtfertigt: „Wir bekämpfen menschliche Tiere.“ Selbst wenn Gallant damit, was wahrscheinlich ist, die Terroristen der Hamas gemeint haben sollte, sind solche Wortmeldungen genauso besorgniserregend wie Aufrufe, den Gazastreifen „plattzumachen“. Sie sind verhetzend und brandgefährlich.

Postkoloniale Massaker

Aber auch US-Präsident Joe Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft Segal „rassistische Rhetorik“ und „dehumanisierende Sprache“ vor, die „eindeutig darauf ausgerichtet ist, die massenhafte Zerstörung palästinensischer Leben zu rechtfertigen“. Denn Biden und Von der Leyen hatten sich am 11. Oktober doch tatsächlich dazu verstiegen, die Hamas-Massaker als „act of sheer evil“ bzw. „ancient evil“ zu bezeichnen. Für Segal ist diese Rede vom Bösen „in ihrer Absolutheit“ Rassismus, Entmenschlichung und Anstiftung zum Genozid. Weil sie den „breiteren Kontext von Kolonisierung und Okkupation“ ausblendet. Der Aufschrei des Westens als Häresie gegen postkoloniale Glaubenssätze!

Während Segal in Gaza eine Ausrottungsabsicht Israels verwirklicht sieht, vermag er die notorischen Vernichtungsphantasien der Hamas-Gründungscharta und deren obstinate Weigerung, Israels Existenzrecht anzuerkennen, nicht als genozidale Absicht zu deuten. Zwar wirft er der Hamas – völkerrechtlich korrekt – Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Das ist es dann aber auch. Was den versuchten Völkermord der Hamas vom 7. Oktober anlangt, erweist sich Segal als Agnostiker.

Krieg und Verhetzung

Und doch stimmt Segals Warnung vor jener verhetzenden und verräterischen Sprache, die das Erkennungsmerkmal potentieller Völkermörder ist. Und das sind unter bestimmten Umständen wir alle, wie Christopher Brownings klassische Studie zu den „ganz gewöhnlichen Männern“ des Hamburger Reservepolizeibataillons 101 nahelegt.3 Brownings Ordinary Men hatten insgesamt 38.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder – hauptsächlich durch Genickschuss – ermordet.

Browning sieht im Wesentlichen vier Voraussetzungen, um aus Menschen wie du und ich Völkermörder zu machen: Gehorsamsbereitschaft und Gruppenzwang (anthropologische Grundkonstanten) einerseits, die er aus den berühmten sozialpsychologischen Experimenten Milgrams und Zimbardos ableitet. Und Krieg und Verhetzung (historische Variablen) andererseits, welche zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gegeben sein mögen oder nicht. Israel erfüllt seit dem 7. Oktober 2023 alle vier Voraussetzungen.

Zwei und zwei zusammenzählen

Hat also Segal bloß zwei und zwei zusammengezählt? Haben auch die über 800 Völkerrechtler und Sozialwissenschaftler, inklusive Segal und einigen Unterzeichnern an den Universitäten Innsbruck und Graz, die bereits am 15. Oktober vor einem „potentiellen Völkermord in Gaza“ warnten, nur zwei und zwei zusammengezählt? Auch wenn sie allesamt die genozidale Qualität der Hamas-Massaker übersahen? Und finden wir im Israel von heute nicht nur Brownings vier Voraussetzungen für Völkermord, sondern auch sämtliche Tatbestandsmerkmale des Völkermords, wie Segal behauptet? Begeht Israel vor unser aller Augen in Gaza einen Völkermord?

„Ausrottung der Deutschen“

1944, als das Royal Air Force Bomber Command und die United States Army Air Force eine deutsche Stadt nach der anderen in ein Feuermeer verwandelten, berichtete J.R.R. Tolkien in einem Brief an seinen Sohn Christopher:

Es ist erschütternd zu sehen, wie die Presse in der Gosse kriecht, so tief wie Goebbels zu seinen besten Zeiten … Es gab einen feierlichen Artikel in der Lokalzeitung, in dem ernsthaft die systematische Ausrottung des gesamten deutschen Volkes als der einzig richtige Weg nach einem militärischen Sieg befürwortet wurde: weil sie, wenn man so will, Klapperschlangen sind und den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennen!

Gomorrah wird hamburgisiert

Dem kombinierten Luftangriff der Briten und Amerikaner auf Hamburg alleine, einem klaren Kriegsverbrechen nach heutigen Maßstäben, waren zwischen dem 24. Juli und 3. August 1943 geschätzte 34.000 bis 40.000 Menschen zum Opfer gefallen. In 5.000 Metern Höhe konnten die Bomberbesatzungen verbranntes Fleisch riechen, unten am Boden riss der Hitzesturm den Menschen die Kleider vom Leib, ihre Haare fingen Feuer, wie Antony Beevor in seinem Klassiker über den Zweiten Weltkrieg berichtet.4

Blick auf Hamburg nach dem durch britische Bomben ausgelösten Feuersturm vom 27. und 28. Juli 1943
Blick auf Hamburg nach dem durch britische Bomben ausgelösten Feuersturm vom 27. und 28. Juli 1943

Arthur Harris, Befehlshaber des britischen Bomber Commands, hatte für die Aktion den Codenamen „Operation Gomorrah“ ausgegeben. „Hamburgisierung“ wurde bald zum Fachbegriff für die Entfachung eines Feuersturms mittels Brand- und Phosphorbomben.

Als die Sonne über dem Land aufgegangen und Lot in Zoar angekommen war, ließ der Herr auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen, vom Herrn, vom Himmel herab. Er vernichtete von Grund auf jene Städte und die ganze Gegend, auch alle Einwohner der Städte und alles, was auf den Feldern wuchs.

Genesis, 19,23-25

Mittel und Zweck

Doch was hat die Genozidforschung von heute zur „Hamburgisierung Gomorrahs“ und Bombardierung von über 800 deutschen Städten mit mindestens einer halben Million toter Zivilisten zu sagen? Mit wenigen Ausnahmen nichts. Weil schon in den vorbereitenden Arbeiten zur Völkermordkonventionen von 1948 weder Hamburg und Dresden, noch Hiroshima und Nagasaki als Genozid gesehen wurden. Im Gegensatz zu Stalins Massenmorden, sodass die Sowjetunion und ihre polnische Marionette gezwungen waren, auf dem Ausschluss „politischer Gruppen“ aus der Konvention zu bestehen. Mit Erfolg.5

Doch die Auslöschung ganzer Städte, da war und ist man sich einig, waren „instrumentelle Massenvernichtung“, um den Kriegsgegner durch beabsichtigte hohe zivile Verluste in die Knie zu zwingen, nicht „exterministische Massenvernichtung“ zur Ausrottung der Deutschen oder Japaner, wie der Sozialwissenschaftler Egbert Jahn in seiner „Phänomenologie der Massenvernichtung“ unterscheidet.6

Tun und Wollen

Umso mehr trifft das Fehlen einer Ausrottungsabsicht auf Israels Luftschläge und Bodenoffensive im Gazastreifen zu. Trotz aller Indizien für Verhetzung, wie sie mehr oder weniger wohl in jedem Krieg zu finden sind. Warum? Weil sich die Verwirklichung einer Ausrottungsabsicht nur auf eine Art äußern kann: in der Tat selbst. Weil das Tun in Gaza dem von Segal unterstellten Willen der Israelis widerspricht. Weil in der in Kauf nehmenden Tötung palästinensischer Zivilisten bei der Bekämpfung militärischer Ziele, so schrecklich wie erlaubt, kein genozidaler Wille erkennbar ist.

Zwar wurden noch in jedem Völkermord zur Vernichtung bestimmte Menschen – aus diesen oder jenen Gründen – von der Vernichtung ausgespart: Aus einem Anflug von Barmherzigkeit, aus Nachlässigkeit oder weil die Völkermörder gerade Besseres zu tun hatten. Aber noch nie gab es einen Völkermord ohne jegliche Hinweise auf systematische und massenhafte Tötung von Menschen, sobald sie ihren Häschern in die Hände fielen. Nicht 1915 im Osmanischen Reich, nicht 1941-45 unter der Naziherrschaft, nicht 1994 in Ruanda.

Der genozidale Tötungsakt

Vor lauter Theorie vergisst Segal die Empirie. Segal sollte sich wieder die vielen Augenzeugenberichte aus den Genoziden des vergangenen Jahrhunderts in Erinnerung rufen, die er gewiss gelesen, gehört und gesehen hat. Der Genozid ist ein Kaleidoskop des Grauens, das Ende der Welt für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sobald ihre Mörder ihnen leibhaftig gegenüberstehen.

Der Genozid, das sind die vielen abgehackten armenischen Kinderhände auf den Straßen zwischen Mossul und Aleppo, „dass man die Straße damit hätte pflastern können.“7 Das ist der österreichische Polizist, der seiner Frau von den Judenerschießungen in Weißrussland vom Oktober 1941 berichtet: „Säuglinge flogen in grossen Bogen durch die Luft und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen.“8 Das sind die mit Macheten bewaffneten Hutus, die in Ruanda beim Abschlachten der Eltern die Ohren spitzen, damit ihnen nicht die verräterischen Schreckensschreie der versteckten Tutsi-Kinder entgehen.9 Das sind die Hamas-Terroristen in den Kibbuzim, die Israelis mitsamt ihren Kindern foltern, vergewaltigen, verstümmeln, erschießen, erstechen, erschlagen, mit Handgranaten zerfetzen, ganze Familien, die sich in ihren Schutzräumen verbarrikadieren, bei lebendigem Leibe verbrennen.

Die Singularität der jüdischen Palästinenservernichtung

Israels „Völkermord“ in Gaza wäre der erste Völkermord der Geschichte, in welchem die Völkermörder praktisch jede Mordsgelegenheit ungenützt verstreichen ließen, sobald sich die Opfer in ihrer uneingeschränkten Verfügungsgewalt befinden. Er wäre der erste Völkermord, der nicht aus dem schier unendlichen Fundus sadistischer Grausamkeiten schöpfte, welche erst dem genozidalen Impuls finale Befriedigung und Erleichterung verschaffen. Kurzum: Israels „Völkermord“ wäre der erste Völkermord ohne genozidalen Tötungsakt, wie ihn die Hamas am 7. Oktober in unzähligen Fällen vorexerziert hat.

Es gibt einen berührenden und erhellenden Dokumentarfilm, in dem die indonesischen Massenmörder von einst ihre Tötungsakte im antikommunistischen Politizid von 1965-66 freimütig als Bühnenstück wiederaufführen. Joshua Oppenheimers Film heißt „The Act of Killing“. Mit Bezug auf Israels Krieg in Gaza gäbe es in dem dort aufgeführten Stück nichts zu sehen. Was wir im Nebel des Krieges sehen, ist Israels schwierige Gratwanderung zwischen dem Kriegsziel, die genozidale Hamas ein für alle Mal zu zerschlagen, und den Geboten der Menschlichkeit, wie sie das humanitäre Völkerrecht vorsieht.

The Act of Not Killing

Was wir sehen, sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit Sicherheit durch die Hamas, möglicherweise auch durch Israel, soweit die Proportionalität einzelner Militärschläge oder die ausreichende Grundversorgung der palästinensischen Zivilisten in Frage gestellt sind. Was wir sehen, ist ein versuchter Genozid der Hamas. Was wir sehen, sobald palästinensische Zivilisten und sogar Hamas-Terroristen den Israelis schutzlos ausgeliefert sind, ist „The Act of Not Killing“.

Anders ausgedrückt: Was wir sehen, ist der Versuch, endlich einmal den Juden einen Völkermord anzuhängen.

PS: Niemand wird mich dazu bringen, Raz Segals Übereifer gegen Israel mit „jüdischem Selbsthass“ zu erklären. Diesen identitätspolitischen Schmarrn, dass der Mensch von seiner Gruppenzugehörigkeit perfekt determiniert sei, habe ich noch nie gekauft.

  1. Vgl. Leo Kuper (1981). Genocide. Its Political Use in the Twentieth Century. New Haven: Yale University Press, S. 32. ↩︎
  2. Resolution A/RES/96(I) der UNO-Generalversammlung vom 11. Dezember 1946. ↩︎
  3. Vgl. Christopher R. Browning (2017). Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York: HarperCollins. ↩︎
  4. Vgl. Antony Beevor (2014). The Second World War. London: Weidenfeld & Nicolson, S. 547. ↩︎
  5. Vgl. Leo Kuper (1981). Genocide. Its Political Use in the Twentieth Century. New Haven: Yale University Press, S. 24-30. ↩︎
  6. Vgl. Egbert Jahn (1990). Zur Phänomenologie der Massenvernichtung. Kolyma, Auschwitz, Hiroshima und der potentielle nukleare Holocaust.- In: LEVIATHAN. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. 18. Jg., Nr. 1, S. 7-38. ↩︎
  7. Vgl. Wolfgang Gust (1993). Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt. München und Wien: Carl Hanser Verlag, S. 43. ↩︎
  8. Zit. n. Timothy Snyder (2016). Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München: Dtv Verlagsgesellschaft, S. 216. ↩︎
  9. Vgl. Fergal Keane (1996). Season of Blood. A Rwandan Journey. London: Penguin Books, S. 71. ↩︎
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Bildquellen

  • Hamburg nach dem Feuersturm: Dowd J (Fg Off), Royal Air Force official photographer, Public domain, via Wikimedia Commons
  • Gaza nach israelischen Luftschlägen im Oktober 2023: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

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