Man kann Prof. Dr. Fritz Rubin-Bittmann gar nicht genug danken für seinen Leserbrief in den Salzburger Nachrichten vom 19. Juni 2019, in welchem er die herausragende Bedeutung Hans Kelsens für Österreich hervorhebt. Und trotzdem müssen Rubin-Bittmanns Feststellungen in einem wesentlichen Punkt korrigiert werden: Das in der Regierungskrise so segensreiche Wirken unseres Bundespräsidenten Van der Bellen ist gerade nicht Hans Kelsen zu verdanken. Denn die Direktwahl des Bundespräsidenten, welche diesem eine von den Parlamentswahlen unabhängige demokratische Legitimität verleiht, wurde erst mit der Verfassungsnovelle von 1929 eingerichtet. In Kelsens Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 war noch die Wahl des Präsidenten durch das Parlament vorgesehen. Was sich im Falle Van der Bellens als Segen erwiesen hat, hätte sich unter einem Bundespräsidenten Hofer aber durchaus als Fluch erweisen können.
Wir alle wohnen in Kelsens Haus
Kelsens bleibendes Verdienst für Österreich ist es, die verfassungsrechtliche Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaates gelegt zu haben. Wir alle wohnen in Kelsens Haus. Mehr noch: Wir Österreicherinnen und Österreicher können mit Kelsens Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (und zwar in der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage von 1929!) einen der ideologiekritischsten, theoretisch kohärentesten und intellektuell redlichsten Texte zur modernen, repräsentativen Demokratie, die in der Demokratietheorie von der Antike bis heute je verfasst wurden, mit Fug und Recht unser historisches Erbe nennen.
Kelsen war Schumpeter um Jahre voraus
Kelsens Demokratietheorie wird – im Gegensatz etwa zu Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von 1942 – nach wie vor sträflich unterschätzt. Schumpeters bekannte Formel von der Demokratie als Methode nimmt Kelsen vorweg, wenn er die Demokratie als Staatsform, nicht als Staatsinhalt, beschreibt, als „besondere Methode der Auslese der Führer aus der Gemeinschaft der Geführten“. Viele Jahre vor Schumpeter wendet sich Kelsen gegen die antipluralistische Fiktion eines einheitlichen Volkswillens und erkennt klar, dass die moderne Demokratie nur als Parteiendemokratie möglich ist. Das für die Demokratie so wesentliche Mehrheitsprinzip leitet Kelsen überzeugend nicht aus der Gleichheit, vielmehr aus der Freiheit ab. Andernfalls wäre das Mehrheitsprinzip nur „der notdürftig formalisierte Ausdruck der Erfahrung, dass die mehreren stärker sind als die wenigeren; und der Satz: Macht geht vor Recht, wäre nur insoferne überwunden, als er sich selbst zum Rechtssatz erhöbe“
Der Feind an der eigenen Brust
Der größte Fehler, den man dem Demokratietheoretiker Kelsen zum Vorwurf machen kann, ja muss, ist ein logischer. In einem Anflug von Verzweiflung und Schwäche wirft Kelsen 1932 die Flinte ins Korn und hält in seinem Aufsatz „Verteidigung der Demokratie“ eine Trauerrede auf die Demokratie als
diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Feinde wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, dass sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss. Bleibt sie sich selbst treu, muss sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden […]. Und so sehen wir das seltsame Schauspiel, dass Demokratie in ihren ureigensten Formen aufgehoben werden soll, dass ein Volk die Forderung erhebt, ihm die Rechte wieder zu nehmen, die es sich selbst gegeben […].
Hans Kelsen in „Verteidigung der Demokratie“ von 1932
Er, der vielgerühmte „Jurist des Jahrhunderts“, Begründer der Reinen Rechtslehre und prominenteste Vertreter des sogenannten Stufenbaus der Rechtsordnung, übersieht, dass mit Ausnahme einer fiktiven „Grundnorm“ alle Normen ihre Geltung einer übergeordneten Norm verdanken. Dass eine untergeordnete Norm also niemals die ihr übergeordnete Norm zerstören kann, ohne sich selbst zu zerstören.
Die Freiheit als „Grundnorm“
Kelsen hat seinen Fehler in der 1965 in den USA erschienen Schrift „Foundations of Democracy“ korrigiert: Das aus der Freiheit abgeleitete Mehrheitsprinzip finde dort seine Grenze, wo es die Freiheit selbst bedroht. Der Zweifler Kelsen vollzieht den entscheidenden Schritt zur liberalen Demokratie, welche allein dem Zweifel, dem Bruder der Freiheit, als ewiger Nährboden dienen kann. Kelsen findet sich schlussendlich und folgerichtig in Übereinstimmung mit Karl Poppers „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ Die liberale Demokratie ist wesenhaft eine wehrhafte Demokratie. Sie wird ihren ärgsten Feind nicht an ihrer eigenen Brust nähren, sie wird ihn erdrücken!
Der Verfassungsjurist und Demokratietheoretiker Hans Kelsen, der in unserer dunkelsten Stunde als Jude wie Millionen andere Männer, Frauen und Kinder zur Vernichtung bestimmt war, ist der Gründervater unserer liberalen Demokratie und damit unserer „verspäteten“, aber umso moderneren österreichischen Nation. Er ist wesentlicher Teil unseres gemeinsamen Erbes aus Ruhm und Reue.
Bildquellen
- Hans Kelsen: By ÖNB. Changes made.