Um das Gedicht „The Hill We Climb“, das die US-Amerikanerin Amanda Gorman bei Joe Bidens Inauguration vorgetragen hat, ist eine Debatte entbrannt. Ausgelöst wurde sie durch den Einwand, nur eine junge schwarze Frau solle Gorman ins Niederländische übersetzen. Es ist ein Streit um linksrechte Identitätspolitik – im ewigen Ringen zwischen Individuum und Kollektiv.
Dass Menschen an vorderster Front stehen, wenn es um die Sache ihrer Gruppe geht, ist nicht neu. Dass sie andere von der Sache ihrer Gruppe mit ideologischem Furor fernhalten, statt sie auf ihre Seite zu ziehen, allerdings schon: Willkommen in der neuen Welt der Cancel Culture! Eines bloß „marginalen Phänomens“, wie der Princeton-Politologe Jan-Werner Müller in Die Mär von der illiberalen Linken schreibt. Der viel gescholtenen Identitätspolitik gehe es nur „um das effektive Einfordern von Grundrechten“.
Der Mensch in der Punktwolke
Noch im Banne des Ersten Weltkriegs veröffentliche der Schriftsteller Hermann Hesse 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair seinen Demian. Im Prolog schrieb er:
Wären wir nicht noch mehr als einmalige Menschen, könnte man jeden von uns wirklich mit einer Flintenkugel ganz und gar aus der Welt schaffen, so hätte es keinen Sinn mehr Geschichten zu erzählen. Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder.
Doch nicht länger gilt heute der Mensch als „der einmalige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder“. Der Mensch erscheint jetzt nur noch als Teil einer Punktwolke. Und durch diese Punktwolke sollte sich eine möglichst passende Regressionsgerade ziehen lassen. Der Mensch (M) als abhängige Variable ist die Funktion seiner Identität (I) als unabhängiger Variable: M = (f)I. Der Mensch ist von seiner Gruppenzugehörigkeit perfekt determiniert.
Wahrung der Identität
Tatsächlich geht es den ProponentInnen der Cancel Culture um nichts weniger als ein neues Grundrecht auf Wahrung der Identität. Und ein solches kann nur als Diskriminierungsgebot gedacht werden. Das universale Gleichheitsversprechen in Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hatte noch gelautet:
Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.
Geht es nach der Identitätspolitik, wäre dem Diskriminierungsverbot folgender Satz hinzuzufügen:
Dieser Anspruch gilt nur insoweit, als nicht das Recht anderer auf Wahrung der Identität durch Unterscheidung beeinträchtigt wird, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.
Dann, und nur dann, würden die Vertreter der Identitätspolitik nichts als ihre Grundrechte einfordern, wie Jan-Werner Müller behauptet. Dann, in der Tat, wäre es die bloße Inanspruchnahme dieses Grundrechts auf Wahrung der Identität, dem literarischen Shooting-Star Marieke Lucas Rijneveld die Fähigkeit, nein, das Recht abzusprechen, Amanda Gormans weltweit akklamiertes Gedicht The Hill We Climb ins Niederländische zu übersetzen. So wie es die schwarze Mode-Influencerin Janice Deul in der Tageszeitung deVolkskrant getan hat. Denn Rijneveld ist „weiß, nicht-binär, hat keine Erfahrung auf diesem Gebiet“. Mit „Gebiet“ meint Deul die Identität einer schwarzen Frau. Hatte sich Gorman in ihrem Gedicht nicht selbst als „skinny Black girl“ beschrieben? Sollte es da dem holländischen Verlag Meulenhoff nicht möglich sein, jemanden zu finden, der ein „spoken word artist ist, jung, Frau und: unapologetically Black?“
Hang zum Kannibalismus
Die vermeintlich gemeinsame Sache der Diversität läuft auf das Gleiche hinaus wie die Internationale der Nationalisten: Zuerst erklären die vereinten Partikularisten dem Universalismus den Krieg. Am Ende bekriegen sie sich gegenseitig. Der Hang zum Kannibalismus liegt im Wesen aller partikularistischen Bewegungen.
Im Gegensatz zu Marxens unleugbarem Humanismus kann man der Cancel Culture nicht einmal zubilligen, gut gemeint zu sein. Sie ist per se ein zivilisatorischer Rückschritt. Auf dem Spiel steht nichts weniger als „das Schicksal des universalistischen Denkens“, so der Philosoph Omri Boehm in seiner Kant-Apologie Sie wollen ihn stürzen sehen in der ZEIT vom 26. November. „Nirgends wird das Elend der linken Identitätspolitik so deutlich wie in dieser Regression von Kants Aufklärung zu Heideggers Antihumanismus.“
Richtig oder falsch
Das Tier ist amoralisch und determiniert. Der Mensch kann richtig oder falsch handeln. Die Besonderheit der menschlichen Würde liegt in dieser Freiheit, nicht in seiner Identität. Der nach Kant zu moralischem Handeln fähige Mensch darf und soll aus der Punktwolke ausbrechen. Jeder Mensch, schreibt Hesse, „ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin.“ M = (f)?
Traduttore, traditore! rief die Influencerin Geul, und der drohende Verrat ward aufgedeckt. Übersetzer, Verräter! Freilich richtete sich Geuls Vorwurf des Verrats nicht gegen den Makel jeglicher Übersetzung, dem Original niemals Genüge tun zu können. Er richtete sich auch nicht gegen die Übersetzung, die es noch gar nicht gab. Ja nicht einmal gegen die Person Rijnevelds selbst, da der Cancel Culture der Begriff der Person fremd ist. Geuls Vorwurf des Verrats richtete sich einzig und allein gegen Rijnevelds falsche Identität.
Doch rasch löste sich die Angelegenheit in Wohlgefallen auf. Rejneveld zeigte sich einsichtig und reumütig: „Ich verstehe die Leute, die sich beleidigt fühlen.“ Im August war Rejnevelds Debütroman Was man sät mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden. In der ZEIT vom 25. Oktober hatte Rejneveld zu Protokoll gegeben: „Wenn du ein Buch schreibst, musst du deine Umgebung vergessen. Du darfst nicht darüber nachdenken, wen du damit verletzen könntest oder wer es nicht gut finden wird.“ So schnell kann einen mit 29 Jahren der Mut verlassen …
Mea culpa, causa finita?
Ende gut, alles gut? Mea culpa, causa finita? Ein nicht unwichtiges Detail ist freilich bisher übersehen worden: die unglaubliche Infamie, die sich hinter der ganzen Geschichte verbirgt und die einen, sobald man sie erkennt, erst nach Luft ringen, dann einen Schrei ausstoßen lässt: Vielleicht noch kein anklagendes J’accuse! Zumindest aber ein Indignez-vous!, ein Empört Euch!
Denn Marieke Lucas Rijneveld, der oder die sich derzeit sowohl als Frau, als auch als Mann fühlt und von der oder dem wir deshalb, wie Rijneveld selbst, im Plural als Marieke und Lucas sprechen wollen, Marieke und Lucas also wurden nicht nur von einem Schnellgericht der mangelnden Empathiefähigkeit beschuldigt, was diese ja umgehend eingestanden, nein, Marieke und Lucas wurden von Deul anschließend gleich zu ihrer literarischen Hinrichtung geführt: Worüber, um alles in der Welt, soll Rijneveld denn schreiben, wenn 99,9 % aller Menschen eine andere Identität haben, weil diese binär oder nichtweiß sind, und Marieke und Lucas sich in andere Welten zugegebenermaßen nicht einfühlen können?! Geht es nach der Logik der Cancel Culture, taugt Rijnevelds Literatur künftig bestenfalls als exotischer Reisebericht aus einer anderen Welt.
Ein einziges Minenfeld
Identitätspolitik ist ein einziges Minenfeld, übersät mit verstümmelten beruflichen Existenzen. Rijnevelds quasi versehentliche literarische Hinrichtung ist die logische Folge einer Axiomatik, welche die kollektive Identität über das unteilbare Individuum stellt. Deul und all den anderen AktivistInnen soll hier gar keine böse Absicht vorgeworfen werden. Sehr wohl aber, eine verheerende Logik in Gang gesetzt zu haben!
Rejnevelds reumütiges Eingeständnis erinnert an die Selbstbezichtigungen der Moskauer Prozesse der 1930er-Jahre, wie sie Arthur Koestler in seinem Stalinismus-Roman Sonnenfinsternis geschildert hat. „Schließlich bekenne ich mich schuldig, den Begriff des Menschen über den der Menschheit gestellt zu haben,“ sagt der gefallene Volkskommissar Rubaschow. Im Sinne der Identitätspolitik ist Rejneveld schuldig, den Begriff des Menschen, oder vielleicht doch nur die eigenen literarischen Ambitionen, über den Begriff der Gruppe gestellt zu haben.
Marieke und Lucas haben erfreulicherweise ihre Stimme wieder gefunden und mit dem Gedicht Alles bewohnbar geantwortet, welches zeitgleich in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, England und Deutschland veröffentlicht wurde. Was antwortet Rejneveld?
es geht darum, dich
hineinzuversetzen, das Kummermeer
hinter den Augen
des andern zu sehen, die wuchernde
Wut bis dorthinaus,
du willst sagen, dass du vielleicht
nicht alles verstehst, dass du
sicher nie ganz den richtigen Nerv
triffst, aber dass du es sehr wohl
fühlst, ja, du fühlst es, mag der
Unterschied auch zollbreit sein.
Marieke Lucas Rijneveld, Alles Bewoonbaar, Übersetzung ins Deutsche von Ruth Löbner
Rejneveld sagt das einzig Richtige, in der inklusiven zweiten Person Singular, und meint damit uns alle: dass du vielleicht nicht alles verstehst, aber dass du es sehr wohl fühlst, mag der Unterschied auch bleiben. Aber das ist alles, was wir erhoffen können! Kein Mensch kann einem anderen Menschen auch nur ein Jota näher kommen. Der Mensch ist die differentia specifica unter Menschen. Empathie ist eine kosmische Verbindung, eine Frage der Menschlichkeit, keine Frage der Identität.
Weiß, binär und tot
Der Philosoph John Rawls, weiß, binär und mittlerweile tot, war nicht der Erste, der versuchte, eine gerechte Welt zu denken. Und er wird nicht der Letzte sein. Sein Mittel der Wahl war der „Schleier des Nichtwissens“. Wie die Causa Rejneveld beweist, taugt die Wirklichkeit nicht zur Gerechtigkeit. Und so bediente sich Rawls, wie so viele Kontraktualisten über so viele Jahrhunderte vor ihm, eines Kniffs: der Fiktion eines ursprünglichen Vertrags, auch „Gesellschaftsvertrag“ genannt. Schließen wir die Augen und stellen wir uns vor, was sich auch Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und all die anderen Vertragstheoretiker vorgestellt haben: einen Urzustand nämlich, in dem natürlich freie und gleiche Menschen zusammenkommen, um die Grundregeln der künftigen Gesellschaft zu verhandeln.
Nun, fragte Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit von 1971, sollte es um der Gerechtigkeit willen nicht ein unschätzbarer Vorteil sein, würden die Versammelten keine Ahnung haben, welcher Platz in der Gesellschaft ihnen dereinst zufiele? „Keiner kennt seine Stellung in der Gesellschaft und seine natürlichen Gaben, daher kann niemand Grundsätze auf seinen Vorteil zuschneiden.“ So die Theorie. Und sie ist bestechend.
G wie Gorman, G wie gemeinsam
Der Haken an der Sache: Wir Menschen tragen keinen „Schleier des Nichtwissens“, haben ihn nie getragen und stellen immer mehr die trennende Identität über das gemeinsame Menschsein. Wir müssten uns auf Rawls‘ Gedankenexperiment einlassen und so tun, als wüssten wir nicht um unsere Gruppenzugehörigkeiten. Oder wir hören auf Gormans zentrale Botschaft – auch wenn uns die Identitätspolitik vorgaukeln will, wir könnten diese ohnehin nicht verstehen.
Amanda Gormans mitreißendes Gedicht sollte nach dem Willen Joe Bidens dazu beitragen, die amerikanische Nation zu heilen, wieder zu vereinen und dem pandemischen Rassismus den Kampf anzusagen. Genau so wurde The Hill We Climb verstanden. In Amerika. Weltweit. Niemand wird auch nur einen einzigen anständigen nichtschwarzen Menschen, binär oder nicht-binär, davon abhalten, diesem verfluchten Rassismus ein für alle Mal den Garaus zu machen, den schwarzen Brüdern und Schwestern zur Seite zu stehen, mit ihnen gemeinsam den Hügel zu erklimmen:
Erstveröffentlicht in Der Standard (Album) vom 20. März 2021 (Printausgabe). Leicht abgeändert und ergänzt.
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