Der Terroranschlag vom 11. September 2001 und der Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021 markieren die bisher spektakulärsten Erfolge der Feinde der westlichen Demokratie – der äußeren wie der inneren. Die größere Gefahr droht derzeit von innen.
Vor nicht ganz zwei Jahren, am 15. März 2019, um 13:45 Uhr Ortszeit, begann Brenton Tarrant im neuseeländischen Christchurch zu schießen. 51 Menschen fielen dem rechtsextremistischen Anschlag auf zwei Moscheen zum Opfer. Vier Monate zuvor hatte Tarrant Österreich bereist, darunter Wien, und der Identitären Bewegung des Martin Sellner € 1.500 gespendet. Auf seinen Waffen war der Name Ernst Rüdiger von Starhembergs eingraviert, des Wiener Stadtkommandanten während der zweiten Türkenbelagerung von 1683. In seinem Internet-Manifest „Der große Austausch“ lobte er Donald Trump als „Symbol erneuerter weißer Identität“ und griff schon im Titel ein beliebtes rechtsextremistisches Motiv auf, die Angst der Völkischen vor der „Umvolkung“. Das Wort und dessen Ungeist war schon 1992 von Andreas Mölzer in die FPÖ eingeführt und noch in den 2010er-Jahren von Johann Gudenus und Karl Schnell gebraucht worden. Die Auswirkungen des Anschlags von Christchurch waren noch im 18.119 Kilometer entfernten Wien zu spüren.
Christchurch, Neuseeland
Acht Jahre zuvor, am 22. Februar 2011, um 12:51 Uhr Ortszeit, hatte ein mächtiges Erdbeben Christchurch erschüttert, bei dem 185 Menschen starben. Wie der Anschlag traf das Erdbeben Christchurch unvorbereitet. Trotz der noch stärkeren Erschütterung vom 4. September 2010, mit allerdings nur zwei Schwerverletzten, war das Ausmaß der tektonischen Verwerfungen unterschätzt worden. Unbemerkt hatte sich unter der Erdoberfläche die Pazifische Platte gegen die Australische Platte geschoben und eine ungeheure, aber unsichtbare Macht aufgebaut.
73 Jahre zuvor, am 12. März 1938, um 15:50 Uhr Ortszeit, rollte Adolf Hitlers Geländewagen von Simbach kommend über die Inn-Brücke Richtung Braunau. Als Hitler durch seine Geburtsstadt fuhr, läuteten alle Glocken. Vor Sonnenaufgang hatte die Wehrmacht noch befürchtet, die Österreicher würden Widerstand leisten. Um 04.30 Uhr, eine Stunde vor dem geplanten Truppeneinmarsch, hatten sich österreichische Tragtierkolonnen der Grenze genähert. Während die Deutschen die Verminung der Grenzbrücken vermuteten, hatten die Österreicher Girlanden herbeigeschafft. Der „Anschluss“ Österreichs war das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, der 60 bis 80 Millionen Tote forderte.
Die Wiener Ereignisse des 12. März 1938 verursachen einen Tag später noch in 18.119 Kilometern Entfernung ein intellektuelles Nachbeben. An diesem Tag hört auch der österreichische Philosoph Karl Popper vom deutschen Einmarsch in sein Heimatland und beschließt in seinem neuseeländischen Exil in Christchurch, ein Buch zu schreiben. 1942 ist sein Monumentalwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde fertig.
Von Platon über Hegel bis Marx entzaubert Popper die geistigen Wegbereiter des Totalitarismus. Jener Übersteigerung des demokratischen Massenzeitalters, in der – wie in einer Art kaltem Bürgerkrieg – öffentlich und privat verschmelzen, niemand auskommt und alle mitmachen müssen. Im Totalitarismus sind alle Subjekt und Objekt der Unterdrückung zugleich. Bis 1945 fallen 16 Familienangehörige des gebürtigen Wieners dem Holocaust zum Opfer.
Demokratie als friedlicher Wandel
83 Jahre nach Poppers Entschluss, sein Totalitarismus-Buch zu schreiben, am 6. Jänner 2021, stürmt ein von Donald Trump aufgestachelter Mob das Kapitol in Washington, die Ikone der Demokratie, die nicht Amerika allein, sondern der ganzen Welt gehört. So hatten es die amerikanischen Gründerväter und Revolutionäre versprochen. „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der ganzen Menschheit“, schrieb Thomas Paine in seiner Revolutionsschrift Common Sense von 1776.
Trumps wilder Entschluss, eine „peaceful transition“ um jeden Preis zu verhindern, löst Entsetzen aus. Selbst bei seinen republikanischen Komplizen. Nirgendwo wird die friedliche Amtsübergabe mehr zelebriert als in den USA. Ein Ritual, das ebenjener Österreicher in seinem neuseeländischen Exil als Wesen der Demokratie identifiziert hatte. Eine demokratische Regierung sei jene, so Popper, derer wir uns ohne Blutvergießen entledigen können. Demokratie ist friedlicher Wandel: „peaceful change“.
Hamiltons versteinerter Blick
„This is our house!“, herrschen die Eindringlinge die überrumpelte United States Capitol Police in der Rotunde des Kapitols an – unter dem versteinerten Blick Alexander Hamiltons. Putschisten aus gespanntem Fleisch und wallendem Blut gebärden sich als der leibhaftige Volkssouverän. Als vereinten sie, wie der Torso der riesenhaften Figur im berühmten Frontispiz zu Thomas Hobbes‘ Leviathan von 1651, „das Volk“, dieses missbräuchlichste aller Konstrukte, in ihrer jämmerlichen Person!
Alexander Hamilton, der produktivste der drei Autoren der Federalist Papers, dieser historisch einzigartigen Kombination aus intellektuellem Feuerwerk und nüchterner Betrachtung, kannte nicht nur seinen Hobbes. Er kannte vor allem die Menschen, den Mob, die Demagogen. Am 21. Juli 1788 erklärt Hamilton vor dem New Yorker Ratifizierungskonvent, warum die „Demokratie“ (worunter die Gründerväter die direkte Demokratie verstanden) der falsche und die „Republik“ (die repräsentative Demokratie) der richtige Weg Amerikas sei:
Die antiken Demokratien, in denen das Volk selbst beratschlagte, besaßen nicht ein einziges Merkmal guter Regierung […] Wenn sich das Volk versammelte, befand sich am Ort der Debatte ein zügelloser Mob, der zur Beratung nicht fähig und zu jeder Ungeheuerlichkeit bereit war. […] Es war eine Frage des Zufalls, ob das Volk sich blindlings von dem einen oder dem anderen Tyrannen führen ließ.
Alexander Hamilton vor dem New Yorker Ratifizierungskonvent von 1788
Das Volk, eine staatsphilosophische Fiktion
Denn geführt werden die Menschen, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Auch die Demokratie ist nur eine „besondere Methode der Auslese der Führer aus der Gemeinschaft der Geführten“, wie es der große Hans Kelsen schon 1929 in Vom Wesen und Wert der Demokratie formuliert. Nur macht es eben einen Unterschied, ob die Menschen von einem Usurpator im Weißen Haus unter hysterischen „Stop the steal!“-Rufen über die Pennsylvania Avenue geführt werden oder ob gewählte Senatorinnen und Repräsentanten ohne Druck der Straße ihr verfassungsmäßiges Mandat wahrnehmen.
Rebellen, nicht Revolutionäre, schänden, besudeln, beflecken die heiligsten Hallen der Demokratie, in der irrigen Annahme, es wäre ihr Haus, welches sie jederzeit betreten könnten. So wie ihr „Star“ einer Frau jederzeit an den Unterleib fassen kann. Der Ruf „Wir sind das Volk!“ ist ein Segen zum einen Zeitpunkt, ein Fluch zum anderen. „Das Volk“ ist eine staatsphilosophische Fiktion. Nur bei Wahlen hat das Volk seinen Auftritt. Auch hier nur als Mehrheitswille, nicht als einheitlicher Volkswille. Danach tritt es ab und zerfällt wieder in Interessengruppen. Bis zu den nächsten Wahlen. Ein Volk in Permanenz wird zur irregeleiteten Masse. Es schafft keine neue Welt, es zerstört nur die alte. Und tötet irgendwann Menschen – ob als Rousseaus volonté générale unter der „Sichel der Gleichheit“ auf dem Schafott oder als nationalsozialistische Volksgemeinschaft im Konzentrationslager.
Das Volk herrscht in Tat und Wahrheit nie
„Das Volk herrscht in Tat und Wahrheit nie, aber durch Definition kann es immer dazu gebracht werden“, schreibt Joseph Alois Schumpeter 1942, im gleichen Jahr wie Popper. Allerdings nicht im Exil, sondern in seiner amerikanischen Wahlheimat in Harvard. 1919 war Schumpeter sieben Monate lang österreichischer Staatsekretär für Finanzen gewesen. In Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, dem Klassiker der „ökonomischen Theorie der Demokratie“, definiert Schumpeter:
Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben.
Joseph Alois Schumpeter in „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von 1942
Friedlicher Wandel, Konkurrenzkampf um Stimmen, politischer Wettstreit: das sind die Ingredienzien unserer Demokratie, unserer modernen, westlichen, liberalen Demokratie.
Allein, sie sind nicht mehr unbestritten. Es braut sich was zusammen. Nein, kein Donnergrollen aus der Ferne! Die Demokratie ist standhaft gegenüber dem totalitären Islamismus. Samuel P. Huntingtons vielgescholtenen Clash of Civilizations gibt es, aber er wird die westliche Demokratie nicht zugrunde richten. Das Kalifat ist vorerst geschlagen. Und China rüstet zwar wirtschaftlich und militärisch auf, aber es verfügt nach wie vor über keinen plausiblen Gegenentwurf zum Westen.
Die innere Bedrohung
Die Bedrohung kommt nicht von außen. Vielmehr ist es ein leises, aber stetiges Klopfen und Hämmern im Untergrund, das uns wachrütteln sollte. Es sind die inneren Feinde der offenen Gesellschaft, welche die Grundfesten unserer Demokratie untergraben. Vielleicht ist es sogar der Feind in uns selbst, der die Last des sokratischen Zweifels nicht länger ertragen will und sich in falsche Gewissheiten flüchtet.
Sicher, die fortschreitende Globalisierung ist eine wesentliche Ursache der gegenwärtigen Verunsicherung, welche ziemlich genau nach dem von Francis Fukuyama 1989 vorschnell verkündeten Ende der Geschichte eingesetzt hat. Die Institution des Kalten Krieges gab auch Halt, wie alle Institutionen, an denen mittlerweile der Zahn der Zeit nagt. Und doch ist dieser Modernisierungsschock alles andere als neu. Das „Geburtstrauma“ des modernen Menschen im kalten Logos, wie Popper schreibt, seine tiefe Sehnsucht nach dem wärmenden Mythos, dauert nun schon seit 2.500 Jahren an. Seit die Griechen uns das Denken gelehrt haben. Schon Platon beklagte nichts als Verfall und Zersetzung und sehnte sich zurück zur göttlichen Wahrheit der Dinge – die freilich nur der Philosophenkönig selbst schauen könnte.
Eine Frage der Legitimität
Amerikas bewaffnete Milizen werden die amerikanische Demokratie nicht zu Fall bringen. Mögen sie „Proud Boys“, „Wolverine Watchmen“, „Oath Keepers“, „The Base“ oder „Three Percenters“ heißen. Nichts könnte irreführender sein als Maos Ausspruch, die politische Macht stecke in den Gewehrläufen. Das Motto mag eine Guerilla auf ihrem Langen Marsch antreiben, ein Staat ist damit nicht zu machen. Die Grundlage politischer Herrschaft werden wir in Gewehrmündungen vergeblich suchen. Sie ist einzig und allein in den Herzen und Köpfen der Menschen zu finden. In der Überzeugung der Beherrschten, zu Recht beherrscht zu werden. Herrschaft beruht, wie wir spätestens seit Max Weber wissen, auf Legitimität.
Es ist dieses unsichtbare Band, welches Trump seit seiner Ankündigung, er könne in fairen Wahlen gar nicht verlieren, zu durchschneiden versucht hat. Ein unbewaffneter Trump-Anhänger, der den Märtyrertod sucht, kann die Legitimität der Biden-Administration stärker untergraben als tausend mit Sturmgewehren ausgerüstete Milizionäre. Die vereinigten Rechtspopulisten aller Länder, diese groteske Internationale der Nationalisten, haben der liberalen Demokratie mehr Schaden zugefügt als sämtliche islamistischen Sprengstoffattentäter zusammen. Doch alles Reden und Argumentieren erübrigt sich vollends, wo sich wahre Prachtexemplare der Gattung Homo sapiens vom Schlage der QAnon-Anhänger auf das geistige Niveau der Neandertaler zurückentwickeln. Würden sie doch alle der harmlosen Flat Earth Society beitreten! Verschwörungstheoretiker untergraben nicht die Legitimität unserer demokratischen Prozesse. Schlimmer, sie führen sie ad absurdum.
Horchdienst für die Demokratie
1683 rückte der Großwesir Kara Mustafa Pasha mit 120.000 Mann gegen Wien vor, darunter die gewaltige Anzahl von 5.000 Mineuren. Um Wiens mächtige Stadtmauern zu untergraben und zu sprengen. Nach der ersten Minensprengung am 23. Juli verpflichtete der Stadtkommandant Ernst Rüdiger von Starhemberg jeden Hausbesitzer, einen Mann zum Horchdienst im Keller abzustellen. Nach der Zündung einer besonders großen Mine am 29. August erging die Anordnung, in der Stadt Wasserbottiche aufzustellen, um unterirdische Grabungsarbeiten anzuzeigen. Bei der geringsten Erschütterung erblickte man im Wasserbottich sein verzerrtes Spiegelbild. Wien hielt den Mineuren stand. Bis zum Eintreffen des Entsatzheeres unter dem polnischen König Johann III. Sobieski.
Es ist allerhöchste Zeit für Demokraten, die Ohren zu spitzen und das eigene Spiegelbild zu betrachten. Die Mineure sind schon lange am Werk. Eine Demokratie, die sich selbst nicht ernst nimmt, wird zugrunde gehen. Eine Demokratie, die sich selbst ernst nimmt, kann nur eine wehrhafte Demokratie sein. „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ So, und nur so, ist Karl Poppers „Paradox der Freiheit“ zu lösen. Schon einmal sind Europas Demokratien – eine nach der anderen – gefallen. Ob wir jemals wieder Entsatz aus Amerika erwarten könnten, bleibt einer ungewissen Zukunft überlassen.
Bildquellen
- Sir Karl Popper: LSE library, No restrictions, via Wikimedia Commons
- Alexander Hamilton: By RebelAt at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0. No changes.
- Sturm auf das Kapitol: By Tyler Merbler at Wikimedia Commons, CC BY 2.0. No changes.