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Illustration © Oliver Schopf zu "Vergesst die UNO!" in "Der Standard" vom 20. August 2003. Mit freundlicher Genehmigung des Karikaturisten

Vergesst die UNO! Europa nach dem Irakkrieg

Posted on 20. August 20034. Dezember 2021 by Richard Müller

Die USA erwarten von den Vereinten Nationen Kadavergehorsam. Europa muss nach dem Irakkrieg ein Gegengewicht aufbauen.

Immanuel Kant war ein Meister der schrulligen Pedanterie und – nun ja – der „praktischen Vernunft“. Als er seinen Diener Lampe, den guten Geist des Hauses, entlassen musste, kam der Philosoph zu Königsberg nur schwer über die Veränderung seiner gewohnten Lebensumstände hinweg und entschloss sich, fürderhin nicht mehr an Lampe zu denken. Um seinen Entschluss nicht wieder zu vergessen, legte sich Kant einen Merkzettel zurecht: „Lampe muss vergessen werden!“

Ob Kants Methode damals funktioniert hat, weiß ich nicht. Meine Versuche jedenfalls, Kants Traum von der „Weltföderation“ zu vergessen, sind kläglich gescheitert. Da hilft kein Knoten im Taschentuch und auch kein „Die UNO muss vergessen werden!“. Im Gegenteil, je angestrengter ich versuche, mir die UNO aus dem Kopf zu schlagen, desto klarer wird mir, dass es keine Alternativen gibt. Jedenfalls keine, mit der alle gut leben könnten.

Drei Weltordnungen

Im Prinzip gibt es drei mehr oder weniger taugliche Entwürfe zur Ordnung der Welt: die Hegemonie, das Mächtegleichgewicht, die Weltföderation. Kurz: Entweder schafft einer an, mehrere oder alle.

Weil die Bush-Administration gerade so schön dabei ist, fange ich mit der Hegemonie an. Die Theorie der hegemonialen Stabilität geht davon aus, dass die Vorherrschaft einer einzelnen Hegemonialmacht am ehesten für Ordnung sorgen kann. Das Römische Reich, Großbritannien im 19. Jahrhundert und die USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg werden oft als Beispiele genannt. Nach dem amerikanisch-sowjetischen Gleichgewicht des Schreckens während des Kalten Krieges wäre nun eben erneut die Pax americana am Zug.

Es ist kein Zufall, dass sich Amerikas Denkfabriken derzeit um den britischen Historiker Niall Ferguson und sein Buch Empire nur so reißen. Fergusons Grundaussage zum britischen Kolonialreich: Wo wären denn heute die Inder ohne uns Briten!? Seine Empfehlung: Amerika soll es den Briten nachmachen.

Freilich garantiert hegemoniale Stabilität weder Frieden noch Gerechtigkeit: Erstens liegt es in der Logik dieser Theorie, dass jeder Krieg zur Stärkung und Festigung des Imperiums als dem Weltfrieden förderlich verkauft werden kann. Beispiel gefällig? Selbst ein so brillanter Publizist und Historiker wie Sebastian Haffner konnte sich in seinen Anmerkungen zu Hitler wahnsinnig darüber echauffieren, dass man den Nazis nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, sondern auch Verbrechen gegen den Frieden anlastete.

Krieg zum Frieden

Das einzige Mittel, so Haffner, den Krieg abzuschaffen, sei nämlich der Weltstaat (lies: Weltreich), „und zum Weltstaat gibt es wahrscheinlich keinen anderen Weg als den erfolgreichen Welteroberungskrieg“. Auch Hitlers Eroberungskrieg müsse daher als „Krieg zur Beendigung aller Kriege“ gesehen werden.

Zweitens tendieren gemäß Paul Kennedys Aufstieg und Fall der großen Mächte Hegemonialmächte zu „imperialer Überdehnung“. Die jüngste Proliferation amerikanischer Militärbasen in Zentralasien und Arabien ist da höchst illustrativ. Alle Anstrengung richtet sich aufs Militärische, zivile Bereiche werden vernachlässigt. „Hegemonialer Niedergang“ geht dann einher mit blutigen Diadochenkämpfen zwischen den nachfolgenden Mächten. Das Ende der amerikanischen Hegemonie dürfte allerdings noch etwas auf sich warten lassen.

Drittens sind Stabilität und Gerechtigkeit zwei Paar Schuhe. Wie sagte doch Lord Acton? Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Ich muss da unweigerlich an die zahlreichen Propagandatricks der Bush-Administration denken (Office of Strategic Influence, Falschinterpretation der 1441er-Resolution, irakische Uran-Importe aus Niger). Mit Amerikas Werten haben die nichts zu tun. Denn die amerikanischen Gründerväter wussten nur zu gut: Macht braucht checks and balances, sie muss gezügelt und ausgeglichen werden.

Damit wären wir beim Mächtegleichgewicht. Zumindest in Rumsfelds „altem Europa“ setzt sich langsam die Einsicht durch, dass sich Europa als freundliche, aber bestimmte Gegenmacht positionieren muss. Alles Vertrauen in Amerikas wohlwollende Despotie zu setzen und darauf zu hoffen, dass uns das US-Militär nicht irgendwann das von ihm betriebene Global Positioning System (GPS) ausknipst, ist vor allem eines: unfassbar naiv.

Mächtegleichgewicht

Aber ist es nicht ebenso naiv, an ein geeintes und starkes Europa zu glauben? Nur wenn man sich der europäischen, gänzlich unamerikanischen Untugend des Kleinmuts hingibt. Doch auch die von Großbritannien über Jahrhunderte hinweg verfolgte Balance-of-Power-Politik bringt allenfalls Stabilität, nicht aber Frieden und Gerechtigkeit. Denn das Gleichgewicht der Mächte muss ständig nachadjustiert werden – unter Umständen auch durch Krieg.

Im Falle eines sich einstellenden Ungleichgewichts haben Staaten zwei Möglichkeiten: Sie schlagen sich entweder auf die Seite der Schwächeren und versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen, oder sie springen auf den fahrenden Zug in Richtung Hegemonie. Das „neue Europa“ scheint sich für Letzteres entschieden zu haben.

Der dritte und für Europa und die Welt wohl einzig attraktive Entwurf ist Immanuel Kants Weltföderation. So utopisch Kants Ideen in seiner 1795 erschienenen Schrift Zum ewigen Frieden auch sein mögen, sie bildeten letztlich die Grundlage sowohl des Völkerbunds als auch der UNO.

Kindesweglegung

Zweimal hat Amerika Kants Geisteskind adoptiert. Zweimal hat Amerika nun Kindesweglegung betrieben. Durch Nichtratifizierung des Völkerbund-Statuts 1920 und spätestens durch ungenierte Hintertreibung des UNO-Sicherheitsrates im Winter 2003. Nach dem Irakkrieg erwarten sich Washingtons neokonservative Falken und christliche Fundamentalisten von der UNO vor allem eines: Kadavergehorsam.

Die vor wenigen Tagen verabschiedete Resolution 1483 geht da in die „richtige“ Richtung. Mit dem von Albert Einstein und Sigmund Freud in ihrem Briefwechsel Warum Krieg? diskutierten System der kollektiven Sicherheit hat die UNO zurzeit wenig zu tun.

Freilich führt der einzig gangbare Weg von der Hegemonie zur Weltföderation über das Gleichgewicht der Mächte. Europa bleibt gar nichts anderes übrig, es muss vom Schmiedl zum Schmied werden. Bis dahin sollten wir erst einmal versuchen, die UNO zu vergessen. Also: Schere zur Hand nehmen und Merkzettel ausschneiden!

Erstveröffentlicht als „Kommentar der Anderen“ in der Der Standard vom 20. August 2003 (Printausgabe)

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Bildquellen

  • UNO_Stars-Stripes: © Oliver Schopf, Der Standard

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