Schöne Städte, faszinierende Landschaften und freundliche Menschen gibt es woanders auch. Mein Europa ist eine historisch einzigartige Kultur des Zweifels. Im Gegensatz zu den Kulturen der Gewissheit der Propheten, Priester und Populisten aller Zeiten und Länder. Mein Europa, das ist das Erbe des Sokrates und aller, die ihm bis heute gefolgt sind: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Nicht die Saat seines abtrünnigen Schülers Platon, des selbst ernannten Philosophenkönigs, der seinen Lehrer geistig verraten hat, wie Karl Popper in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ anschaulich gemacht hat. Der sich seiner Sache sicher war und im totalitären Staatsentwurf den Himmel auf Erden schaffen und Herrenmenschen züchten wollte.
Die Vernunft strebt nach Wahrheit, sie besitzt sie nicht. Allenfalls vorläufig, niemals endgültig. Die Vernunft wird sich immer für die Freiheit und gegen die Unfreiheit entscheiden, für Demokratie und Menschenrechte, für die liberale Demokratie. Denn sie lebt vom Zweifel. Die Unvernunft hingegen wird sich immer für die Unfreiheit entscheiden, für die illiberale Demokratie, den Autoritarismus, den Totalitarismus. Denn sie fürchtet nichts mehr, als ihre Gewissheiten in Zweifel gezogen zu sehen.
Im Gegensatz zu Orbáns Ungarn, Kaczyńskis Polen, Erdoğans Türkei, Putins Russland und allen von gewählten Autokraten beherrschten Ländern hegt und pflegt mein Europa den Zweifel. Weil es sich auch 2500 Jahre nach Sokrates noch weiterentwickeln möchte, nicht verharren in nicht hinterfragbaren Gewissheiten. An einem aber zweifelt mein Europa nicht: am Zweifel selbst. Und allen Freiheiten, die daraus notwendigerweise folgen.
Erstveröffentlicht als Beitrag zur Kolumne „Mein Europa“ in den Salzburger Nachrichten vom 6. Oktober 2018 (Printausgabe)
Bildquellen
- Raffael, Die Schule von Athen: Raphael, Public domain, via Wikimedia Commons